Abenteuer in der Arktis


J Kritische Nachbemerkung. Ein Essay

J Kritische Nachbemerkung. Ein EssayzoomDie Sibirjakov-Expedition war eine Schlappe gewesen, das Cheljuskin-Abenteuer war ein Debakel. Zwar war es erstmals gelungen, die Route in einem einzigen Navigationszeitraum zu schaffen, aber mit welchen peinlichen Einschränkungen: Nur mit geblähtem Segel war der Eisbrecher frei gekommen und dann im Schlepptau eines Fischtrawlers zunächst nach Japan gebracht worden. Nur mühsam konnte der Propagandajubel diese Tatsachen verschleiern. Stalin fordert sofort einen neuerlichen Versuch, der diesmal erfolgreich zu sein hat, und der Apparat gehorcht. Die Glawsewmorput wird gegründet und fasst sämtliche Behördern und sonstigen Einrichtungen unter ihrem Kommando zusammen. Dennoch dauert es ein ganzes Jahr, bis am 16. Juli 1933 die Chelyuskin zur Reise aufbricht: ein ungeeignetes Schiff, mindestens zwei Monate zu spät, um das Sommerfenster zu nützen. Kapitän Woronin weigert sich, das Schiff zu pilotieren: es sei zu breit, mit zu viel Tiefgang, der Rumpf sei so geformt, dass er von einer Eispressung nicht gehoben sondern zerquetscht wird, die Dampfmaschine sei unterdimensioniert. Erst als ihm klar gemacht wird, welche Konsequezen er im Fall einer Weigerung zu gewärtigen habe, lässt er sich auf das Wagnis ein. Erst Anfang August 1933 - zu dieserm Zeitpunkt hätte die Passage bereits erfolgt sein müssen -, beginnt die Einfahrt in die Karasee. Bereits hier zeigen sich alle gravierenden Schwächen, und gemeinsam schlägt die Expeditionsleitung einen Abbruch der Expedition vor, was der Rat der Volkskommissare natürlich ablehnen muss - wer in den bequemen, vor allem Unbill gefeiten Moskauer Amtsstuben würde sich denn mit dem Kreml anlegen.
Die Chelyuskin ist schwer überladen. Zwanzig Bauarbeiter, zum Teil mit Frau und Kind, sollen die Siedler auf der Wrangel-Insel ablösen. Diese war, nach wiederholten Ansprüchen von Amerikanern und Briten, durch Georgi Uschakow 1926 für die Sowjetunion in Anspruch genommen worden, was - wie bei allen vergleichbaren Inseln - durch dauerhafte Präsenz angezeigt wird. (Wir treffen Uschakow jetzt wieder, als Koordinator vor Ort; er ist als einer von wenigen, sachkundig. und erfahren.) Dass die Chelyuskin viel Baumaterial und Werkzeug für Wrangel an Bord hat (nebst Schweinen und Kühen!) wird sich bei der Errichtung von Camp Schmidt als unerwarteter Glücksfall erweisen. Das Nebenziel, die Insel zu erreichen und deren Besatzung abzulösen, wird freilich nicht erreicht. (Über das weitere Ausharren der Siedler dort sind keine Informationen zu finden.).
Die Reise ist eine endlose Serie von Rückschlägen auf der Suche nach dem Vorankommen. Die Fahrtrinne wird freigesprengt und friert sofort wieder zu. Die Mannschafft schleppt das Schiff an Tauen - das bringt nichts. An einem Tag hat man insgesamt nur 400m geschafft und wird über Nacht von der Drift um zehn Kilometer zurückgetrieben. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass die Chelyuskin wider alle Erwartungen doch noch bis zur Beringstraße vordringet und am 5. November 1933 nur noch zwei bis drei Meilen vom offenen Wasser im Stillen Ozean entfernt ist. Wäre es gelungen, das Schiff aus seiner Umklammerung zu lösen und diese letzte Distanz zu überwinden, hätte man die Expedition als vollen Erfolg feiern können. Hatte Woronin mit dieser and Unwahrscheinliche grenzenden Hoffnung gerechnet und deshalb, wie kolportiert wird, erst am 10. November, längst zu spät, die Lütke zum Abdrehen aufgefordert? Warum hat man nicht den kurzen Fußmarsch riskiert, zumindest für einen Teil der Mannschaft? Schlitten waren ja vorhanden. Weil dies die Wiederholung des nur schlecht kaschierten Scheiterns der Sibirjakow gewesen wäre? Aus der Quellenlage ergibt sich kein Hinweis. So aber treibt das Schiff über hundert Meilen nordwärts und ist von nun an der Drift und den Rispressungen ausgeliefert. Schmidt und Woronin dürften sich über die Situation keine Illusionen gemacht haben: Der Auftrag, die Passage binnen einer Navigationsperiode zu queren, ist gescheitert, ebenso die Ablösung der Überwinterer auf der Wrangel-Insel. Dass das Schiff bis zur Eisschmelze dem permanenten Druck standhalten wird, ist möglich, aber unwahrscheinlich. Nicht zuletzt deshalb hat man das Geschehen großteils aufs Eis verlegt und für den Fall der Fälle die Evakuierung aller lebenswichtigen Güter präzise geplant. Der Untergang der Chelyuskin klärt die Lage. man kann Schmidt und Woronin kein menschliches Versagen anlasten, mit all den Konsequenzen, die vom Kreml zu erwarten gewesen wären.
Kam die Nachricht vom Untergang der Chelyuskin für Moskau wirklkich überraschend? Jedenfalls folgt die Reaktion buchstäblich über Nacht und auf zweifache Art und Weise. Zum einen wird sofort das Rettungskomitee der Apparatischiki berufen, der hochrangig Inkompetenten, die unter starkem Aktionsdruck stehen und daher um jeden Preis tausende Kilometer vom Geschehen entfernt "geeignete" Maßnahmen treffen müssen. (Erst als Uschakow am 27. März in Wankareem eintrifft, ist ein Experte vor Ort. Er hat freilich wenig zu koordinieren, weil die lokalen Verantwortlichen längst das Erforderliche organisiert haben.)
Die zweite unmittelbare Reaktion auf das Scheitern der Expedition ist die Entfaltung einer Propagandaschlacht, wie sie die Sowjetunion in dieser Form noch nie erlebt hat. Das Debakel wird Anlass zur heroischen Aufbietung sämtlicher Kräfte, deren nur die überragende Gesellschaftsordnung der Sowjetunion unter der Zentralsonne Stalin fähig ist. Auf das Leben und Schicksal der Schiffbrüchigen kann da keine Rücksicht genommen werden, sie sind ab sofort nur noch pauschal zu Helden ernannte Staffage, denen die Empathie ganz Russlands sicher ist mehr noch: die fiebrige, von Tag zu Tag in allen Medien neu angefachte Sorge um die der Kälte und Schrecknis des Eises Ausgelieferten: Alle Menschen sind in solidarischem Miterleben vereint - und in der Gewissheit, dass die unbesiegbare Sowjetmacht diese Schicksalsprüfung siegreich bestehen wird.
Natürlich wäre die einzige sinnvolle Lösung, das Angebot der USA anzunehmen und einer Evakuierung nach Nome zuzustimmen. In Alaska steht das erforderliche Fluggerät sofort oder binnen kürzester Zeit zur Verfügung, die Flugzeit ist nur unwesentlich länger als nach Wankarem, und die Chelyuskins hätten sofort festes Land betreten, mit allen erforderlichen Einrichtungen und der bestmöglichen Organisation der Heimreise. Die Offerte muss selbstredend ausgeschlagen werden, denn es ist undenkbar, sich ausgerechnet vom ideologischen Widersacher aus der Bredouille retten zu lassen! Nie würde man Washington einen solchen Triumph gönnen. Da nimmt man ohne Bedenken jede noch so miserable Alternatguive in Kauf: Wankaren ist bloß ein Warenlager mit ein paar unzulänglichen Unterkünften. Nach Uelen sind es 130km per Schlitten oder Flieger. Von dort muss die Weiterreise nach Anadyr mühsam organisiert werden, und selbst dann noch steht dire lange Schiffsreise nach Wladiwostok und von dort die Fahrt mit der Transsib nach Moskau an.
Vor allem aber fehlt es vor Ort an Flugzeugen und Piloten. Einzig Ljapedewski ist in der Region als Linienpilot abrufbar. Daher auch seine spektakulär Aktion am 17. März. Aber bereits der Totalverlust der Maschine nach der Landung beweist die Gefahr und Schwierigkeit der ganzen Unternehmung. Die ANT-4 mit ihrer großen Kapazität fällt aus. (Wo bleibt eigentlich Bobrich mit der zweiten ANT-4?) Jetzt heißt es warten, bis die Militärstaffel Kamarins eintrifft, und noch länger bis auch die "Zivilisten", die sich freiwillig gemeldet haben, ankommen. Welch ein Widersinn, Piloten unter ungeheuren Strapazen in offenen Maschinen über 6.000km anfliegen zu lasse! Welch ein Widersinn, Fluggerät per Schiff aus Wladiwostok und Moskau herbeizuschaffen und es in Anadyr stehen zu lassen, bis die Piloten per Bahn und Schiff nachkommen. Welch ein Verschleiß an Flugzeugen, die reihenweise zu Bruch gehen, so dass dringend Nachschub angefordert werden muss! Und wie verzweifelt müssen die Schreibtisch-Organisatoren sein, wenn sie sogar Luftschiffe aufbieten (die nie zum Einsatz kommen) und SH-2-Kleinstflugzeuge für nur einen Passagier (die bereits beim ersten Start zu Bruch gehen). Was geschieht mit der einen verbliebenen Fleetster? Sie hat sechs Kabinensitze. Wird sie wirklich nur für den Transport von Schmidt nach Nome gebraucht? Stimmt also die Vermutung, dass sie für die kurzen Rollwege auf Kap Schmidt ungeeignet und somit eine teure Fehlinvestition war?
Die Evakuierung und die Rückreise der Chelyuskins ist aufwendig und zeitraubend. Schmidt kann währenddessen kuriert werden, resit auf konventionellem Weg per Flug und Schiff über Washington und Tokio zurück und wird so rechtzeitig in die Transsib geschmuggelt, dass er beim großen Empfang in Moskau dabei sein kann. Dort wartet die Ordensverleihung. In aller Eile hält das Parteibüro der Chelyuskin im Waggon 3 eine Sitzung ab, um die rasch eingeforderten Anträge der künftigen Helden der Sowjetunion um Aufnahme in die Partei zu befürworten. Die Auswahl erfolgt freilich nicht nach den tatsächlichen Leistungen sondern strikt nach dem Skript: Sieben Helden und keiner mehr. Lewanewski war kein einziges Mal auf der Schollle, hat jedoch Stalin eine flammende Ergebenheitsadresse geschickt: "Ich will in den Reihen der Partei sein!" Pivensteyn hat den mörderischen Flug bis zur lezten Etappe mitgemacht; er geht leer aus. Krenkl wird diesmal mit dem Rufzeichen des Schiffes abgespeist, RAEM. Die Navigatoren, die bis zur Erschöpfung im Einsatz waren, die zahlreichen Helfer bekommen pauschal den Standardorden oder gehen leer aus.
Großartig ist die Inszenierung: 2w1 Lincolns mit offenem Verdeck bei der Konfettiparade. Stalin schreitet mit Gefolge aus dem Nikolskie-Tor, da donnern die Flugzeuge über die Köpfe, erstmals mit dem größten Sowjetflugzeug, der Tupolew ANT-20, Maxim Gorki. Der Auftritt in Leningrad, wenige Tage später, fällt nur weniger pompös aus.
Wir haben zwei Sorten an Quellen. Die einen, unmittelbar aus der Zeit der Ereignisse, überbieten einander in kommunistischem Pathos. ("Die Rettung der teuren Freunde aus Nscht und Eis ... war nur möglich untger dem Banner des Sozialismus, nur in einer Gesellschaftsordnung, in der der Mensch nicht den Profitinteressen geopfert wird." Prawda, 17. Juni 1934) - "Wir wissen, dass Sie, Genosse Stalin, der Initiator der grandiosen Rettungsaktion ... waren. Wir betrachten es als unsere erste Pflicht, aufs neue kampfbereit zu sein für die Macht, den Ruhm und die Unverletzlichkeit unseres mächigen Landes." (Die Flieger und Bordmechaniker an J.W. Stalin). Die wichtigste Publikation ist "Tscheljuskin - Ein Land rettet seine Söhne" von Sergej Tretjakow, der zwei Jahre später im großen Terror wegen ahgeblicher Spionage gegen Japan hingerichtet wurde. Wollen wir ihm und den Chelyuskins, die er zu Wort kommen lässt, Glauben schenken, so war auf der Scholle nichts wichtiger als die vom kommunistischen Kader betriebene intensivste politische Arbeit: "Wir senden unsere flammenden Grüße der allen Werktätigen teuren Roten Armee, dem Führer der Weltrevolution , Genossen Stalin, und dem Führer der Roten Armee, Genossen Woroschilow." Funkspruch vom 24. Februar 1934) -"Mit unbeschreiblicher Begeisterung haben /wir/ den Gruß der Mitglieder des ZK der KpdSU und der Regierung aufgenommen. ... In der freien Zeit ... arbeiten /wir/ die Parteitagsreden durch, insbesondere die Reden des Genossen Stalin." (Funkspruch, 28. Februar 1934).
Die zweite wichtige Quelle sind die Memoiren von Ernst T. Krenkel, 1973 mit einer russischen Ausgabe, RAEM мой позывной, die nicht mehr der stalinistischen Lobhudelei unterliegt und die politisch-ideologische Rhetorik bereits deutlich zurücknimmt. Die Betonung liegt auf der Überlebensleistung der Schiffbrüchigen und ihrer Retter, wobei Krenkel natürlich die eigene Rolle hrevorhebt. In der englischen Ausgabe von 1978, "RAEM is my Call-Sign", wird die ideologische Komponente weiter zurückgedrängt, und schließlich noch mehr in der ebenfalls 1978 erschienenen, inhaltlich stark gekürzten deutschen Ausgabe, "RAEM ist mein Rufzeichen".

Auf die beiden sowjetischen Expeditionen folgte keine dritte zur Querung der Nordost-Passage. 1940 drang der deutsche Hilfskreuzer Komet mit Hilfe russischer Eisbrecher durch die Nordmeerpassage in sein Operationsgebiet im Pazifik vor. 2011 wurde der Ausbau der Route zu einer bedeutenden Verkehrsader offizielles Ziel der russischen Regierung. Heute werden Touristik-Reisen durch die Passage angeboten. Der Klimawandel hat es möglich gemacht.


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